Die Erfassung Politisch motivierter Kriminalität in Deutschland
-Ein Überblick von Yusuf Sari
Die Innenministerkonferenz (IMK) beschloss am 10. Mai 2001 eine Reform des Meldesystems für politisch motivierte Straftaten. Hintergrund waren Diskrepanzen zwischen der Statistik des Innenministeriums und der Statistik, die verschiedene Medien, wie die Frankfurter Rundschau oder der Tagesspiegel am 14.9.2000, vorlegten. Letztere zählten seit 1990 nämlich 93 Todesopfer rechter Gewalt in Deutschland, wohingegen dem Innenministerium[1], nur 24 solcher Fälle bekannt waren.
Aus den Erfassungsrichtlinien vor der Reform ging hervor, dass die Polizei nur solche Straftaten in die Staatsschutzstatistiken aufnahm, die das Bestreben zur Überwindung der freiheitlichen demokratischen Grundordnung zum Ziel hatte. Nur Taten, die dieses Merkmal der „Systemüberwindung“ aufwiesen, galten als „extremistisch“ und wurden in den Statistiken auch so geführt. Somit entsprachen bis 2001 eine große Zahl von Gewalttaten gegen verschiedene Minderheiten dem Kriterium des Extremismus nicht. Dies hatte zur Folge, dass bis zu 70% aller Delikte in diesen Bereichen statistisch nicht relevant waren.[2] Zeitweise wusste sich die Polizei nur mit provisorischen Hilfskonstruktionen wie „fremdenfeindlich motivierte Gewalt“ zu helfen. Besonders die Aufdeckung der „vergessenen Todesopfer rechter Gewalt“, (s.o.) zwang das BKA letztendlich zum Umdenken und zur Reformierung des Systems.
Dieses neue Definitionssystem „Politisch motivierte Kriminalität (PMK)“, deckt nun gesondert die Phänomenbereiche PMK-rechts, PMK-links und politisch motivierte Ausländerkriminalität ab. Laut dem Bundesamt für Verfassungsschutz gilt eine Tat insbesondere dann als politisch motiviert rechts;
wenn die Umstände der Tat oder die Einstellung des Täters darauf schließen lassen, dass sie sich gegen eine Person aufgrund ihrer politischen Einstellung, Nationalität, Volkszugehörigkeit, Rasse, Hautfarbe, Religion, Weltanschauung, Herkunft, sexuellen Orientierung, Behinderung oder ihres äußeren Erscheinungsbildes bzw. ihres gesellschaftlichen Status richtet.[3]
Ein Diskriminierungsverbot ist in diese Definition entsprechend Art 3 Abs. 3 Grundgesetz bereits hineingearbeitet. Von da an wurden nicht nur extremistisch motivierte Taten im Sinne der „Systemüberwindung“ berücksichtigt, sondern unter dem Begriff der „Hasskriminalität“ wurden auch fremdenfeindliche sowie antisemitisch motivierte Delikte unterschieden. Allerdings deckte dieses neue Definitionssystem nicht alle Angriffsarten auf Minderheiten separat ab. Die Angriffsziele „Muslime“ oder „Islam“ (und andere wie Antiziganismus) wurden z.B. bis einschließlich 2016 bzw. 2017 nicht gesondert erfasst. Verschiedene Parteien, Verbände sowie der NSU-Untersuchungsausschuss kritisierten diesen Umstand und forderten lange Zeit die Erfassung in einer separaten Kategorie „Islamfeindlichkeit“.[4]
Eine entsprechende Überarbeitung bezüglich islamfeindlicher Straftaten ist zum Januar 2017 in Kraft getreten. Wurden 2016 noch 91 Fälle mit islamfeindlichen Hintergrund erkannt und gezählt, so sind es 2017 mindestens 950 Angriffe auf Muslime und muslimische Einrichtungen wie Moscheen. Das geht aus einer Antwort des Bundesinnenministeriums auf eine Kleine Anfrage der Linken-Fraktion hervor[5]. 33 Menschen wurden demnach verletzt. Die Behörden registrierten außerdem knapp 60 Anschläge, Schmierereien und Schändungen, etwa mit Schweineblut, auf Moscheen bzw. islamische Einrichtungen. Verschiedene muslimische Vertreter äußerten sich skeptisch. Die Statistik erfasse nicht alle Delikte und die Wirklichkeit werde nur in Teilen abgebildet.[6] Man müsse von einem „großen Dunkelfeld“ ausgehen. Polizei und Staatsanwaltschaften seien oft „noch nicht dafür sensibilisiert“, islamfeindliche Straftaten richtig einzuordnen. Deshalb würden trotzdem viele Fälle nicht in der Statistik erfasst.
Obwohl das Erfassungssystem bis dato diverse Reformen erfahren hat, existieren immer noch große Problemfelder.
Das System PMK steht und fällt auf Grundlage der polizeilichen Ermittlungen, insbesondere am Beginn und am Ende des polizeilichen Handelns.
Die Ermittlungsbeamt_innen stehen vor einer großen Herausforderung, denn die richtige Einordnung eines möglichen PMK- Hintergrundes ist abhängig von der Erfahrung, der Professionalität und Kompetenz, sowie Empathiefähigkeit und kulturellen Sensibilität der zuständigen Beamt_innen. Sie sind die Ersten am Tatort, wenn es zu einer Straftat kommt und deswegen ist die Anfangsphase der Ermittlung entscheidend.
In diesem Zusammenhang wies „Human Rights Watch“ schon 2011 auf diverse Fehler und Schwächen der polizeilichen Arbeit hin[7]:
Bezogen auf die Erfassung von Moscheeangriffen gibt es ebenfalls Diskrepanzen, vor allem zwischen den Zahlen der Regierung und den der Zivilgesellschaft (NGO’s).
Die Abgeordneten Ulla Jelpke, Dr. Andre Hahn, Gökay Akbulut und weitere Abgeordnete der Fraktion Die LINKE beantragen regelmäßig Informationen über konkrete Zahlen, die der Bundesregierung über mutmaßlich antimuslimisch oder islamfeindlich motivierte Straftaten vorliegen.
Die Bundesregierung antwortet auf die Kleine Anfrage (19/1564) wie folgt[9]:
Dem BKA wurden insgesamt 157 Delikte mit dem Unterthema „Islamfeindlich“ für das 1. Quartal 2018 gemeldet. Unter den aufgeführten Delikten befinden sich lediglich 10 Einträge mit dem Angriffsziel Religionsstätte/Moschee. Dabei wird explizit darauf hingewiesen, dass diese Kategorie nur für „Moscheen selbst“ gelte. „Stätten der Religionsausübung“, „Moscheevereine“ oder sonstige „islamische Einrichtungen“ seien davon nicht umfasst, heißt es weiter. Bei all diesen Begriffen fehlen die jeweiligen Definitionen und es wird nicht weiter darauf eingegangen. Warum diese Unterscheidungen gemacht werden bleibt ebenfalls offen.
Im Vergleich dazu sind laut der Kölner Antidiskriminierungsstelle FAIR international im 1. Quartal 2018 mindestens 27 Moscheen Opfer von Angriffen geworden[10]. Zahlreiche Teehäuser, Gemüseläden etc. waren in diesem Zeitraum ebenfalls betroffen, wurden bei dieser Zählung aber nicht berücksichtigt, sondern nur Räumlichkeiten, die tatsächlich einen Gebetsraum besitzen und unter den Muslimen auch als Moscheen genutzt werden.
Damit bei Ermittlungen das Augenmerk frühzeitig auf mögliche rassistische Tatmotive gelegt wird, hat der Untersuchungsausschuß des Bundestages folgende Empfehlung ausgesprochen:
„In allen Fällen von Gewaltkriminalität, die wegen der Person des Opfers einen rassistisch oder anderweitig politisch motivierten Hintergrund haben könnten, muss dieser eingehend geprüft und diese Prüfung an geeigneter Stelle nachvollziehbar dokumentiert werden. […] Ein vom Opfer oder Zeugen angegebenes Motiv für die Tat muss von der Polizei beziehungsweise der Staatsanwaltschaft verpflichtend aufgenommen und angemessen berücksichtigt werden.“ [11]
Das Deutsche Institut für Menschenrechte hebt allerdings hervor, dass vor allem Konsequenzen im Bereich der Aus- und Fortbildung erforderlich seien. Die jeweiligen Kompetenzen der Polizei, Staatsanwaltschaft und Richterschaft sollten gezielt gefördert werden, um effektiver rassistische Motive von Straftaten erkennen zu können. Nur so sei eine Änderung der bisherigen Rechtspraxis möglich.[12]
[1] Damals unterstand es dem Innenminister Otto Schily.
[2]BMI 2001, Sicherheitsbericht S.266.
[3]In: Rechte Gewalt – Defintion und Erfassungskriterien, Opferperspektive e.V. 2014 S.4
[4]Bundestagsdrucksache 17/14754 S. 3. Bzw. https://www.tagesschau.de/inland/islamophobe-straftaten-101.html
[5] www.noz.de/deutschland-welt/politik/artikel/1028305/mindestens-950-angriffe-auf-muslime-und-moscheen-2017
[6] https://www.zeit.de/gesellschaft/zeitgeschehen/2018-03/muslime-deutschland-islamfeindlichkeit-angriff-bundesinnenministerium
[7]Holzberger, Mark Änderung tut not – Opferperspektive e.V. (Hrsg) S.79.
[8]Siehe hierzu auch die Publikationen der Amadeu Antonio Stiftung (2012/2013b).
[9] Siehe Bundestagsdrucksache 19/2315
[10] https://www.facebook.com/fairint/photos/pb.167519756731025.-2207520000.1547830420./974956325987360/?type=1&theater
[11] Deutscher Bundestag (2013): Beschlussempfehlung und Bericht des 2. Untersuchungsausschusses nach Artikel 44 des Grundgesetzes, Bundestagsdrucksache 17/14600, S. 861.
[12]DIM, Parallelbericht an den UN Ausschuß zur Beseitigung rassistischer Diskriminierung, 2015 S. 8.
In Aachen kam es am 21.10.2023 laut Angaben der Bundestagsdrucksache 20/11292 zu einer islamfeindlichen Straftat auf eine Moschee. Der Fall wurde unter der Kategorie „Sachbeschädigung § 303 StGB“ und dem Phänomenbereich „Sonstige Zuordnung“ festgehalten. Quelle: Drucksache 20/11292 (bundestag.de)
Am 30.10.2023 kam es in Köln laut Angaben der Bundestagsdrucksache 20/11292 zu einer islamfeindlichen Straftat auf eine Moschee. Der Fall wurde unter der Kategorie „Beleidigung § 185 StGB“ und dem Phänomenbereich „Rechts“ festgehalten. Quelle: Drucksache 20/11292 (bundestag.de)